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Gesundheitstrend “Glutenfrei”: Weizen + Co klug ersetzen
Immer mehr Menschen in den industrialisierten Ländern greifen zu glutenfreien Produkten, obwohl nur maximal ein Prozent der Bevölkerung an einer Zöliakie (entzündliche Darmerkrankung mit allergisch-immunologischer Reaktion auf das Getreideeiweiß Gluten) leidet. Tatsächlich kann ein Verzicht auf bestimmte Getreide bei den heute weit verbreiteten Unverträglichkeitsreaktionen zumindest zeitweise sinnvoll sein. Entscheidend ist allerdings, was stattdessen auf den Speiseplan kommt.
Patienten, die an einer Zöliakie leiden, müssen lebenslang konsequent Getreide – Weizen, Dinkel, Emmer, Einkorn (Bild), Kamut, Gerste, Grünkern, Roggen sowie handelsüblichen, das heißt mit Weizen und Gerste verunreinigten Hafer – vermeiden, da sie auf kleinste Mengen des darin enthaltenen Klebereiweißes Gluten bzw. dessen Bestandteile mit Verdauungsstörungen, verringerter Nährstoffaufnahme sowie schweren Schäden an ihrer Darmschleimhaut reagieren. Das Problem ist, dass Gluten außer in Brot, Kuchen und Nudeln in unzähligen Lebensmitteln wie Fertiggerichten, Wurst, Saucen und Süßigkeiten, oft in versteckter Form, vorkommt und der Verzicht darauf eine wirklich radikale Diät erfordert. Als Ersatz für glutenhaltiges Getreide dienen zum Beispiel Reis, Mais, Hirse, Buchweizen, Quinoa oder spezielles glutenfreies Mehl.
Während eine Zöliakie durch Nachweis von Autoantikörpern im Blut und eine Dünndarmbiopsie klar diagnostiziert werden kann, gibt es keine eindeutigen Marker zur Feststellung einer so genannten Glutensensitivität bzw. ‑unverträglichkeit. In der Medizin gilt dieses Beschwerdebild als so genannte Ausschlussdiagnose, wenn zuvor nachgewiesen wurde, dass keine Allergien gegen Weizen bzw. andere Getreide und keine Zöliakie die Beschwerden verursachen. Forscher machen dafür heute als primären Auslöser neben Gluten weitere Eiweißmoleküle (so genannte ATI bzw. Alpha-Amylase-Trypsin-Inhibitoren) verantwortlich, die insbesondere in den verschiedenen Weizenarten sowie in Gerste und Roggen vorkommen. ATI haben in den modernen Getreide-Hochleistungszüchtungen im Gegensatz zu den älteren Sorten stark zugenommen und können im Darm und gesamten Körper entzündliche Reaktionen auslösen bzw. verstärken. Wissenschaftler des Leibnitz-Instituts für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München fanden kürzlich heraus, dass zum Beispiel Einkorn (Bild) – ein Urweizen, der inzwischen auch wieder Deutschland angebaut wird – anders als neuere Weizensorten “gar keine oder nur sehr geringe Mengen an ATI enthält” und “für Menschen mit Weizenunverträglichkeit die bessere Wahl zu sein scheint“. Für die Verträglichkeit von Getreide spielen außerdem Anbaumethoden (Bio bevorzugen!) und Verarbeitung, zum Beispiel der Backprozess, eine Rolle.
Wenn heute viele Menschen auf Grund von Blähungen, Bauchschmerzen, ungewöhnlicher Gewichtszunahme, Glieder- und Kopfschmerz sowie Abgeschlagenheit nach dem Essen bei sich eine Glutenunverträglichkeit vermuten und einen Bogen um alle glutenhaltigen Lebensmittel machen, handelt es sich wahrscheinlich eher um eine Weizen‑, Gerste- oder Roggenunverträglichkeit. Auch diese ist keine Bagatelle und erfordert eine gewisse Konsequenz bei der Ernährungsumstellung, die jedoch nicht so stark sein muss wie bei einer Zöliakie, wo bereits Glutenspuren tabu sind. Wenn man es schafft, Weizen + Co (zumindest teilweise) durch mehr Gemüse, andere Kohlenhydrate wie Hülsenfrüchte und ältere Getreidesorten zu ersetzen und vor allem frisch Gekochtes auf den Tisch kommt, hat man für seine Gesundheit schon viel getan. Eventuell wird man etwas mehr Proteine und Fett essen müssen, um satt zu werden, was ich angesichts der großen Kohlenhydratemengen, die wir heute verzehren, für sogar vorteilhaft halte.
Ein totaler Verzicht auf Gluten, wie ihn uns die milliardenschwere „Glutenfrei“-Lebensmittelindustrie mit ihren Kreationen (ein globaler Markt mit jährlichen Zuwachsraten von 20 Prozent und mehr als 10 Milliarden Dollar Umsatz insbesondere in den USA und Australien, Deutschland, England, Italien und Frankreich) als gesundheitsfördernd und gewichtsreduzierend nahebringen möchte, ist dagegen meines Erachtens ein Marketinginstrument und Lifestyle-Trend, aber ernährungsmedizinisch nicht sinnvoll. Glutenfreie (Fertig)Produkte enthalten nach Untersuchungen des bereits erwähnten Leibnitz-Instituts für Lebensmittel-Systembiologie in der Regel nur sehr wenige Vitamine, Mineralien und Ballaststoffe (und damit wenig Nahrung für unsere wichtigen Darmbakterien). Die glutenfreie Käsepizza ist also nicht die Lösung. Einige Produkte wie Brot und Kuchen aus den Glutenfrei-Regalen im Supermarkt können offenbar sogar gesundheitsschädlich sein. So kommt bei der Herstellung glutenfreier Backwaren vielfach ein Klebereiweiß aus Reis zum Einsatz. Dieses erhöht das Risiko für eine Schwermetallbelastung, wie Forscher der Universität Hohenheim 2018 publizierten, da Reis, aus Asien stammend, oft mit Arsen und anderen Substanzen belastet ist, die sich vor allem in der Reisschale anreichern (die diesen Klebefaktor enthält).
Auch Reiswaffeln und ‑snacks sowie Reismilch sind demnach mit Vorsicht zu genießen, Reis sollte wegen der eventuellen Verunreinigung nicht ständig auf den Tisch kommen. Wenn ich Reis koche, gehe ich wie folgt vor, um den möglichen Arsengehalt zu reduzieren: Den Reis in einem Sieb unter fließendem Wasser gründlich waschen, abtropfen lassen, dann in einem großen Topf in mehreren Litern (!) Wasser kochen. Anschließend das Kochwasser wegschütten, den Reis in einem Sieb abtropfen lassen und eventuell nochmals mit frischem Wasser abspülen.